Historikertag 2000

Historikertag des Neckar-Odenwald-Kreises in Hardheim am 22. September 2000

Vortrag von Peter Wanner
Zentrum und Provinz – die Entstehung von „Badisch Sibirien“

Adolf Kußmaul, 1822 in Graben bei Karlsruhe geboren und als Mediziner u.a. in Heidelberg zu Ruhm gekommen, berichtet in seinen „Jugenderinnerungen eines alten Arztes“ auch über die Kindheitsjahre, die er in Boxberg und in Buch am Ahorn verbrachte. Als er auf die Unruhen im Gefolge der französischen Julirevolution des Jahres 1830 zu sprechen kommt, die auch Baden erschütterten, schreibt er:

„Die Eingebornen von Boxberg und der ganzen Umgegend nahmen an den politischen Ereignissen kaum teil, sie verhielten sich stumpf dagegen. […] das Land zwischen Neckar und Main [blieb] fast unberührt von den welterschütternden Vorgängen. Der ehemalige badische Main- und Tauberkreis, der 1834 aufgehoben und mit dem Neckarkreis zu dem heutigen Unterrheinkreis verschmolzen wurde, stand, wenn wir etwa Wertheim ausnehmen, an Wohlstand und Bildung hinter den übrigen Teilen des Großherzogtums zurück. Obwohl es ihm nicht an fruchtbarem Gelände und lieblichen Tälern und Höhen fehlt, und die Hügel an Main und Tauber einen guten Wein erzeugen, so betrachteten doch viele Beamte diesen Landesteil als das badische Sibirien und sehnten sich wie Verbannte daraus weg. Seine Bewohner, ostfränkischen Stammes, standen an geistiger Begabung nicht tiefer als die Rheinfranken und Alemannen in den anderen Teilen des badischen Landes, aber sie lebten abseits vom großen Verkehr und ihre politische Vergangenheit war eine schlimmere.“

Jeder von uns weiß Bescheid über das, was „Badisch Sibirien“ meint: Das ist die Region Badens, die von Karlsruhe aus ganz im Nordosten des Landes liegt – so wie Sibirien von Moskau aus. Das ist die Region, in der es im Jahresmittel fast 2° C kälter ist als am Oberrhein – so wie es ja auch in Sibirien kälter ist als im Westen Rußlands. Und das ist die Region, in die die Großherzogliche Regierung ihre unbotmäßige Beamten strafversetzt hat – so wie das auch im zaristischen Rußland und darüber hinaus gemacht wurde.

Diese Region war „tiefste Provinz“, und sie gilt manchen bis heute als zivilisatorisches Grenzgebiet. Sie trage – wie es in einem Aufsatz von Berthold Rudolf in der Badischen Heimat über das badische Frankenland heißt – „die abwertende Bezeichnung ‚Hinterland‘ als eine Art Kainsmal.“

Ballons

Wir alle wissen also Bescheid, und man macht sich außerhalb der Region auch gerne lustig über die Gegend um Buchen, Walldürn, Osterburken – etwa mit dem Hinweis darauf, daß das frühere Autokennzeichen des Landkreises Buchen – BCH – nur die Abkürzung für „Badisch Christliches Hinterland“ gewesen sei. Das Phänomen an sich ist also bekannt.

Wer sich aber auf den Weg macht, dieses Phänomen zu ergründen, der stößt auf wenig konkret Beschreibbares.

So gibt es etwa die amtliche Kreisbeschreibung über den heutigen Neckar-Odenwald-Kreis, dessen Osthälfte identisch ist mit einem Teil der Region Badisch Sibirien. Zwei Bände mit etwa 1.800 Seiten, Abbildungen, Karten, Tabellen, Illustrationen, angefertigt von der Abteilung „Landesbeschreibung“ des GLA Karlsruhe und damit von profunden Kennern der Landesgeschichte, erschienen im Jahr 1992. Sie alle kennen das Werk. Aber: Den Begriff „Badisch Sibirien“ haben wir darin nicht gefunden.

So wenig wie das von uns postulierte Merkmal, daß das Gebiet bei Strafversetzungen bevorzugt wurde. Immerhin finden wir dort jedoch die Feststellung, daß der heutige Neckar-Odenwald-Kreis wirtschaftlich an vorletzter Stelle steht im Land, gemessen am Bruttoinlandsprodukt je Einwohner, und daß der Kreis im Vergleich mit anderen Landkreisen sehr dünn besiedelt ist – mit 127 Einwohnern je km² nur wenig mehr als ¼ der Bevölkerungsdichte des Rhein-Neckar-Kreises (475).

Auch in anderen Werken zur badischen Geschichte sind wir nicht fündig geworden – die Geschichtsschreibung schweigt sich aus über das hier thematisierte Phänomen.

Geht man noch weiter ins Detail, etwa mit der dickleibigen Untersuchung von Bernd Wunder über die „Badische Beamtenschaft zwischen Rheinbund und Reichsgründung (1806–1871)“ (fast 700 Seiten, erschienen 1998), so findet sich auch dort auf Anhieb kein Wort über die Besonderheiten von Badisch Sibirien. Zwar stößt man durchaus auf Berichte über Strafversetzungen, v.a. im Gefolge der Revolution von 1848/49. Aber: Kein einziges Beispiel, das unsere Eingangsbehauptung stützen könnte. Im Gegenteil! Da wird von der Strafversetzung des Amtsassessors Würth aus Bruchsal am 8. September 1849 nach Karlsruhe berichtet, und der Amtmann Bonaventura Kraft muß am 12. Oktober 1849 seinen Posten in Eberbach räumen – er muß nach Heidelberg.
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Die Region im Internet

Aber es gibt ja heute zum Glück das Medium der Medien, das Wissensnetz, das weltweite, das Internet – hier muß doch etwas mehr zu erfahren sein über unser Thema! Doch auch hier nur wenig Konkretes. Die Eingabe von Badisch Sibirien als Adresse führt zunächst auf eine Seite, die noch ohne Inhalte ist. Hier wird also noch gebaut am Informationsangebot.

Die Eingabe des Begriffs in die Suchmaschinen führt uns auf viele private Seiten von Menschen aus der und Menschen in der Region: Vom KSC-Fanclub „Region Badisch Sibirien“ zu „DJ Crazy“, dem „besten DJ in Dürn / Badisch Sibirien“, von den Allradfreunden Badisch Sibirien 1989, ansässig in Lauda-Königshofen, zur Eintracht Walldürn, von „Robs Partyzone“ zum Ballonclub Badisch Sibirien e.V. in Walldürn, vom Pfarramt Uiffingen zur evangelischen Kirchengemeinde Ahorn-Eubigheim.

Die Seite „Grünkern.de“ identifiziert das Anbaugebiet des als noch grünes Korn geernteten Dinkel mit dem Bauland, „von Spöttern auch Badisch Sibirien genannt“.

Und noch vor wenigen Monaten fand sich in der Beschreibung der Burgenstraße auf der Seite „heilbronn-neckar.de“ die Behauptung, Mosbach sei die Hauptstadt von Badisch Sibirien.

Lediglich eine Glosse aus den Fränkischen Nachrichten – so etwas wie das Zentralorgan der Region (abgesehen vom östlichen Ausläufer der RNZ, deren Verbreitungsgebiet sich mit den FN überlappt) –, lediglich dieser Text, der mehrfach im Netz zu finden ist, schürft etwas tiefer in unserem Thema.

„In der Wildnis von Badisch Sibirien“, heißt es da in der Überschrift, und weiter:

„Endlich. Endlich weiß der Rest der Welt wieder bescheid. Endlich wird die Region, sonst elegant mit „schwach strukturiert“ umschrieben, wieder bei ihrem richtigen Namen genannt. „Badisch Sibirien“. […]

Dort in der Wildnis von Badisch Sibirien, so haben die Recherchen der Zeitungen ergeben, ist nämlich (man höre und staune) ein „ganz besonderer Menschenschlag zu Hause“. Denn da „schauen die Leute nach wie vor neugierig herüber, wenn ein Fremder vorbeigeht“. So was tut man nicht. Pfui Teufel.

Und dort, das hat die FAZ auch herausgefunden und schüttelt sich noch heute allein bei dem Gedanken daran, „gibt es noch Häuser ohne Bad und mit Toiletten, die man nur über den Hof erreicht.“ […]

Aber, so fragt man sich leicht verunsichert, wieso verirren sich hochzivilisierte Zeitungen überhaupt in diese Region, dorthin, wo man gerade erst den Unterschied zwischen Handy und Handicap begriffen hat? Warum in aller Welt tun die sich das an?

Es handelte sich […] nicht um eine Lifestyle-Reportage zum Thema: „Unglaublich, aber wahr: Auch das ist Leben.“ Es waren auch keine Reiseberichte, passend in die Rubrik: „Die letzten Abenteuer dieser Erde. Heute: Badisch Sibirien“. Es ging schlicht und einfach „nur“ um Emil Beck.“

So weit die Fränkischen Nachrichten vom 17.11.1999, Autorin: Sabine Küssner.

Und bis auf diesen Text haben wir auch im Internet nichts gefunden, was das Phänomen Badisch Sibirien beschreibt oder gar erklärt. Wir ahnen also: Das Thema, mit dem wir uns heute befassen, ist ein Besonderes – wie immer wenn es um etwas geht, das alle kennen und keiner öffentlich beschreibt. Und wir vermuten weiter, daß unser historisches Thema weitreichende Folgen für die Gegenwart hat. Wir befassen uns zudem mit einem Phänomen, das wissenschaftlich nur schwer faßbar scheint; einige seiner Merkmale sind zwar objektiv beschreibbar, vieles bewegt sich jedoch im mentalen, im psychologischen Bereich – das wird im gerade zitierten Text deutlich sichtbar. Badisch Sibirien ist bis heute Reizwort geblieben.

Kommen wir damit also zum eigentlichen Thema und versuchen wir uns mit der objektiven Beschreibung von Badisch Sibirien und seiner historischen Entwicklung.

Der Raum

Als Badisch Sibirien wird meist der ehemalige Landkreis Buchen sowie der westliche Teil des ehemaligen Landkreises Tauberbischofsheim beschrieben, die beide bis zur Kreisreform des Jahres 1973 zum Regierungsbezirk Nordbaden zählten. Seither ist der ehemalige Landkreis Tauberbischofsheim Bestandteil des Main-Tauber-Kreises und gehört damit zum Regierungsbezirk Stuttgart, wurde also – wenn man so will – württembergisch.

Karte

Naturräumlich betrachtet gehört zu Badisch Sibirien nicht nur das Bauland, sondern auch der Hintere Odenwald, vom „Winterhauch“ bis hin zum Erfatal, sowie Teile des Taubergrunds.

Die landschaftlichen Voraussetzungen der Region sind dabei denkbar schlecht. Zunächst einmal ist die geologisch bedeutsame Grenze zwischen Bauland und Odenwald, zwischen Buntsandstein und Muschelkalk zu konstatieren, die sich entlang der Linie Binau (am Neckar) – Lohrbach – Neckarburken – Buchen – Walldürn – Hardheim zieht. Der Buntsandstein bildet dabei sehr unfruchtbare Böden, was zusammen mit klimatischen Nachteilen dazu geführt hat, daß dieses Gebiet erst spät und dann nur spärlich besiedelt wurde.

Im Bauland treten Muschelkalkschichten an die Oberfläche, die – im Gegensatz etwa zum Kraichgau oder zum Neckarbecken, noch viel mehr aber zur Rheinebene – nur geringmächtige Löß- oder Lößlehmauflagerungen tragen oder gar unmittelbar an die Oberfläche treten. Auch ihre Fruchtbarkeit ist nicht sehr groß.

In Verbindung mit den klimatischen Bedingungen führt dies tatsächlich zu den genannten Benachteiligungen des Raums, augenfällig etwa im regional einzigartigen Grünkernanbau (in seiner Entstehung gerade auf die klimatischen Nachteile zurückzuführen, wenngleich erheblich älter als die bis heute immer wieder auf das Hungerjahr 1816 datierte „Erfindung“, augenfällig aber auch bei der Fahrt durch die Täler der Region mit ihren im Laufe der Jahrhunderte gewachsenen Steinriegeln an den Hängen.

Badisch Sibirien auf der Karte
Die Besiedlung

Historisch gesehen wirkte sich dies in den einzelnen Epochen in einer jeweils späteren und geringeren Besiedlung aus. So fehlen etwa weitgehend Zeugnisse einer bandkeramischen Besiedlung, und bis in die Römerzeit hinein blieb die Siedlungsintensität und damit auch die Bedeutung des Gebiets weitaus geringer als etwa die der westlich benachbarten Räume, etwa des Kraichgaus und des Neckarlandes.

Die Region war Grenzland – schon die erste Grenzziehung, die wir in Mitteleuropa kennen, verläuft durch den heutigen Neckar-Odenwald-Kreis. Als nämlich noch unter der Regierung von Antoninus Pius, um 155 beginnend, der Limes von der Neckar-Odenwald-Linie aus nach Osten verlegt wurde, lag das spätere Walldürn direkt an dieser Grenze zum (für die Römer) wilden Germanien. Noch heute ist hier die Ostgrenze der römischen Provinz Germania superior sichtbar.

Auch die frühmittelalterliche Besiedlung erfolgte später als etwa in der Rheinebene und im Neckartal; im Bereich der Odenwald-Limes-Grenze fehlen Hinweise auf eine Weiterbesiedlung von alamannischer Seite, nachdem im Gefolge der alamannischen Invasion um 260 die Grenze des Imperium Romanorum an den Rhein zurückgenommen wurde.

Solche Hinweise der alamannischen Besiedlung unter Weiterbenutzung römischer Infrastruktur kennen wir aus dem Rhein-Neckar-Dreieck – v.a. aus Ladenburg – und aus dem mittleren Neckarraum, wo etwa im Bereich der militärischen und zivilen Siedlungen von Wimpfen, Heilbronn-Böckingen und Walheim alamannische Zeugnisse bekannt sind.

Seit wir darüber hinaus aus der Ortsnamen-Forschung gelernt haben, daß Ortsnamen auf -ingen keinesfalls pauschal als alamannisch einzuordnen sind, fehlt auch der letzte Hinweis auf eine Besiedlung von Badisch Sibirien schon vor 500.

Wir stoßen damit also schon in dieser Epoche auf einen Rückstand, der umso größer zu bewerten ist, als das Gebiet auch verkehrsmäßig wenig erschlossen scheint. Während wir etwa im Rheintal uralte Handelswege kennen, die in der Römerzeit weiterentwickelt wurden, und die alamannischen und später die fränkischen Siedlungen schon im frühen Mittelalter an einem ausgebauten Straßennetz lagen, während auch der Kraichgau durch Durchgangswege zwischen Rheinebene und dem Heilbronner Raum entsprechend erschlossen war, gab es im Bauland zu dieser Zeit wohl noch keine durchgängigen Verkehrswege. Aus römischer Zeit sind nur „Stichstraßen“ zu den vorgelagerten Militärsiedlungen an der Limes-Linie bekannt, etwa durch das Elztal nach Neckarburken und von dort aus weiter nach Osterburken.

Herrschaftsgeschichte

Im Bereich der Herrschafts- und Besiedlungsgeschichte spielt zunächst Würzburg die entscheidende Rolle im untersuchten Raum. Schon um 700 finden wir den Ort als Zentralort eines fränkischen Herzogtums, dessen Bedeutung durch die Gründung des Bistums durch Bonifatius 741/42 noch unterstrichen wurde.

Karte

Daneben spielt tritt nach seiner Gründung das Kloster Amorbach im Odenwald v.a. im nördlichen Teil der Region in den Vordergrund. Wir betrachten zunächst das älteste Besitzverzeichnis des Klosters betrachten, die sogenannten Amorbacher Traditionsnotizen, niedergeschrieben im 12. Jahrhundert.

Nicht nur daß Hardheim diesem frühen Güterverzeichnis seine erste Erwähnung und in diesem Jahr ein Jubiläum zu verdanken hat – für uns interessant ist an dieser Stelle eine weitgehende Übereinstimmung zwischen den Klosterbesitzungen zu dieser Zeit und unserem Untersuchungsgebiet.

Die Amorbacher Traditionsnotizen
Das Kloster Amorbach war wohl schon zur Zeit Karl Martells – zwischen 720 und 741 – gegründet und noch vor 800 dem König übertragen worden. Seither war die Abtei eines der wichtigsten Klöster Ostfrankens und zunächst eine wichtige Stütze der Königspolitik in diesem Raum.

Allerdings gelang es dem Bischof von Würzburg Ende des 10. Jahrhunderts, mit Hilfe einer gefälschten Urkunde das Kloster in seine Hände zu bekommen:

Für die Würzburger Bischöfe war dieses unabhängige Kloster im umstrittenen Grenzgebiet zum Erzbistum Mainz ein Hindernis für die Expansion im Bereich des Odenwalds. Bischof Bernward setzte deshalb den jungen König Otto unter politischen Druck, die Abtei Amorbach dem Bistum Würzburg zu unterstellen. Er legte zu diesem Zweck eine (gefälschte) Urkunde vor: Sie war angeblich von Karl dem Großen ausgestellt und enthielt eben diese Übertragung des Klosters.

Ob die Kanzlei des Königs im Jahr 993 auf diese Fälschung hereinfiel oder die Urkunde aus politischen Gründen gelten ließ, ist unbekannt; jedenfalls stellte Otto dem Bischof eine neue (echte!) Urkunde aus und unterstellte damit das Kloster Amorbach (und vier weitere Klöster) dem Bistum Würzburg.

Aus der königlichen Abtei mit vielen eigenständigen Rechten wurde ein würzburgisches Eigenkloster.

Ein dritter Machtfaktor neben dem König und dem Bischof von Würzburg bildete das Erzbistum Mainz, und wenn wir jetzt zeitlich in das hohe und späte Mittelalter kommen, richten wir den Blick etwas detaillierter auf einen Kernraum in Badisch Sibirien, dessen herrschaftliche Verhältnisse dem Vortragenden sehr genau bekannt sind. Es handelt sich um das Tal des kleinen Flüßchen Erfa, parallel zur Tauber nach Norden und Nordwesten zum Main hin verlaufend; im mittleren und oberen Teil heute identisch mit dem Gemeindegebiet von Hardheim.

Diese Herrschaftskonkurrenz prägt auch die Lage im Erfatal seit dem hohen Mittelalter. Hier stoßen die Interessen des Erzbistums Mainz und des Bistums Würzburg aufeinander, und im Schatten dieser Konkurrenz mischen immer mehr edelfreie und später auch niederadlige Adelsgeschlechter mit, die ihre ureigenen Interessen verfolgen.

Daraus entstand hier wie fast überall in der Region eine hoch komplizierte Situation, so daß teilweise innerhalb der Orte die verschiedenen Herrschaftsrechte – Gerichts-, Leib-, Kirchen-, Landes- und Ortsherrschaft – auf verschiedene Herren verteilt waren.

Güter des Klosters Amorbach im 11. Jahrhundert
Beispiel: Bretzingen im 15. Jahrhundert

Ein Bauer in Bretzingen konnte im 15. Jahrhundert folgende Herren haben: Landesherr in Bretzingen war seit 1294 (und bis 1656) der Erzbischof von Mainz, Kirchenherr war das Domkapitel in Würzburg. Leibherr war unter anderem im Jahr 1561 der Abt des Klosters Amorbach, Grundherr neben vielen anderen beispielsweise im Jahr 1408 Heinz Stumpf von Schweinberg. Die Gerichtsherrschaft lag um 1440 beim Abt des Klosters Amorbach und Ortsherren waren 1409 Werner von Hardheim und Arnold von Rosenberg.

Die Mittel, um an solche Herrschafts- und / oder Besitzrechte heranzukommen, waren nicht immer sehr edel. Auch die Mittel der Kirche nicht – wir haben dies oben am Beispiel der Urkundenfälschungen gesehen. Betrachten wir als Beleg die Situation in Hardheim etwas genauer:

Mittelalterliche Herrschaft – am Beispiel Hardheim

Wohl schon vor dem 12. Jahrhundert hat der Bischof von Würzburg – oder Kloster Amorbach – die Landes- und Gerichtsherrschaft in Hardheim als Lehen an die Herren von Dürn gegeben. Und weil die Herren von Dürn wiederum selbst über so viele Dörfer, Güter und Rechte verfügten, haben sie in Hardheim Verwalter eingesetzt, die sich bald nach dem Vorbild der Edelfreien nach Hardheim benennen, was seit 1197 mit Heinrich von Hardheim belegt ist.

Sie übernehmen über Generationen hinweg diese Verwaltungsdienste für die Herren von Dürn und haben damit natürlich nichts direkt mit dem Bischof in Würzburg zu tun, wenngleich sie Hardheim quasi als würzburgisches Afterlehen halten. Als dann 1323 die Herren von Dürn aussterben, fällt das Lehen zwar de jure an den Bischof von Würzburg zurück. De facto ist es nun aber schon seit mindestens 150 Jahren Familienbesitz der Herren von Hardheim. Im Jahr 1323 sind das zwei Brüder, Werner und Reinhard, die in zwei Burgen wohnen – Werner in der oberen Burg, 1561 zum Schloß ausgebaut –, und Reinhard in der Unteren Burg (heute Steinerner Turm).

Würzburg kann offensichtlich den Heimfall des Lehens nicht durchsetzen; die von Hardheim fühlen sich als rechtmäßige Erben. Da aber das kleine Ministerialengeschlecht der Ritter von Hardheim alleine kaum eine Möglichkeit gehabt hätte, diese Ansicht auch in einem gewaltsamen Konflikt mit Würzburg durchzusetzen, greift man zu einem beliebten Mittel mittelalterlicher Lehenspolitik: Werner von Hardheim, der im Besitz des oberen Schlosses ist, trägt dieses samt Zubehör als Lehen dem Erzbischof von Mainz auf (was er eigentlich gar nicht dürfte, da das Schloß ja dem Bischof von Würzburg gehört).

In Bezug auf die Untere Burg in Hardheim ist die Lage etwas komplizierter – hier ist zwar die Oberlehensherrschaft der Würzburger anerkannt, das Lehen wird jedoch von den Grafen von Wertheim an den zweiten Hardheimer Bruder Reinhard weitergegeben. Mehr als hundert Jahre später ist ein Konrad von Hardheim im Besitz der Unteren Burg, als man sich am Bischofshof in Würzburg offensichtlich entschloß, zumindest die Lehensherrschaft auf diese Hälfte von Hardheim durchzusetzen.

Die folgenden Vorgänge lassen sich dahingehend vereinfachen, daß dieser Konrad von Hardheim zunächst schuldenhalber einen Teil der Unteren Burg an Würzburg verkauft, etwas später Kriegsleute des Bischofs von Würzburg die Burg als angeblichen Stützpunkt von „Raubrittern“ (in den offiziellen Annalen des Bistums auch „Schnapphähne“ genannt) erobern und Konrad so gezwungen wird, auch seinen verbliebenen Anteil an der Burg an den Bischof von Würzburg zu verkaufen.

(Dies ist eine Anmerkung zum Lehenswesen wert: das würzburgische Lehen Untere Burg war dem eigentlichen Lehensherrn inzwischen so entfremdet, daß dieser zunächst Gewalt gegen den Inhaber einsetzen mußte, um es ihm dann abkaufen zu können.)

Der Bischof von Würzburg setzte nun einen Vogt in die Untere Burg, die 1447 wohl beschädigt, aber nicht zerstört wurde; wann sie Ruine wurde – heute ist nur noch der Steinerne Turm, der ehemalige „Bergfried“ übrig – ist nicht bekannt.

Der oberste Lehensherr Würzburg verfügte so im 15. Jahrhundert wieder über Rechte in Hardheim; sie scheinen sich jedoch eher auf einzelne Güter bezogen zu haben wie auf weiterreichende Rechte, die nun allein von den Herren im Oberen Schloß reklamiert werden.

Ein exemplarischer Fall: So wie die Hardheimer sich über Generationen von ihren Lehensherren lösten, so war das überall in der Region, und es war eben dadurch möglich, daß die Kleinen die Großen gegeneinader auspielen konnten.

Ähnlich wie sich hier Mainz und Würzburg um Herrschaftsrechte streiten, mischen im Bereich des späteren Badisch Sibirien an großen Territorialmächten noch die Kurpfalz und die Grafen von Wertheim mit, seit dem 15. Jahrhundert zu den (Wittelsbacher) Löwensteinern gehörend und verschiedene Linien bildend.

Die hier geschilderte Tendenz zum Partikularismus, die nicht nur im Erfatal, sondern auch in anderen Teilen des untersuchten Raums seit dem späten Mittelalter zu beobachten ist, führt jedoch v.a. dazu, daß sich innerhalb der Region keine Zentren bilden können. Städtische Ansätze wie in Buchen, Walldürn, Adelsheim, Osterburken, Rosenberg oder gar in Ballenberg – auf dessen Stadtrechte die moderne Stadtfunktion der nur etwa 2.800 Einwohner zählenden Stadt Ravenstein zurückgeht – bleiben ohne größere Bedeutung, sind selten mehr als untergeordnete Amtsorte.

(Seit dem 15. Jahrhundert ging man fast verschwenderisch mit der Verleihung von Stadtrechten um – so wurde etwa dem Grafen Hans von Wertheim im Jahr 1379 durch König Wenzel gestattet, „das er aus dem dorffe Sweinburg bey der vesten also genant gelegen ein Stat machen moge derselben Stat Sweinburg wir von egen romischer kuniglich mechte alle recht geben haben und geben in krafft diez brieffs sie uns und des reichs stat zu gelnhausen hat…“. Dieses Dorf Schweinberg, das damit kurz vor der Stadtwerdung stand (das Recht haben die Wertheimer schließlich nicht ausgeschöpft), ist heute ein Ortsteil von Hardheim mit gerade einmal 728 Einwohnern zum 31.3.2000).

Gerade die lange Reihe der so entstandenen Kleinstädte ohne Stadtfunktion und die Abwesenheit eines wirklichen Zentrums haben in der Folge mit zum Bild von Badisch Sibirien beigetragen.

Die Bedeutung der Reformation

Wenn wir im nächsten Schritt die Kirchengeschichte seit dem 16. Jahrhundert betrachten, so stoßen wir auf weitere interessante Aspekte zu unserem Thema. Zunächst wieder am Beispiel von Hardheim:

Wie in vielen anderen Fällen auch benutzten die niederadligen Herren von Hardheim die Auseinandersetzungen um den rechten Glauben dazu, sich von der lästigen Oberlehensherrschaft des Bischofs in Würzburg zu emanzipieren. Ob hierzu schon die Handlungsweise des Hans von Hardheim im Bauernkrieg zu rechnen ist, ist nicht bekannt: Er zieht mit dem kleinen Bauernhaufen aus dem Erfatal Anfang Mai 1525 vor die Stadt Würzburg, wo die Bürger der Stadt sich gegen den Bischof auf der Marienburg mit den Bauern verbrüdert haben.

In den folgenden Jahrzehnten folgt dann die Auseinandersetzung um den neuen Glauben, in Hardheim eine Auseinandersetzung zwischen dem Bistum Würzburg – dem mit dem Patronatsrecht der Pfarrkirche St. Albus seit 1256 (von Amorbach) die wichtigsten kirchlichen Rechte in Hardheim gehörten – und den um Unabhängigkeit bemühten Herren von Hardheim.

Vor allem nach dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 führte auch die Ritterschaft des Baulands weitgehend die Reformation durch – sie war bestrebt, sich von ihren Oberherren zu lösen. Für die Reformation in Hardheim spielte dabei die Kappel eine besondere Rolle, eine Einsiedlerkirche im Wald bei Dornberg; neben der Spitalpfründe war sie die einzige Kirche, deren Patronat bei den Hardheimer Rittern lag. Um 1560 wird an der Hardheimer Spitalkirche St. Anna lutherischer Gottesdienst gehalten, und seit 1562 auch in der Pfarrkirche St. Albus.

Der Hardheimer Ortsadel hat sich damit weitgehend von seinem ursprünglichen Herrn, dem Bischof von Würzburg, gelöst.

Bischof von Würzburg war seit 1573 Julius Echter von Mespelbrunn. Er unternahm erfolgreich den Versuch, Würzburger Rechte zu verteidigen und auszuweiten, verbunden mit der Rekatholisierung der entsprechenden Gebiete.

Dabei spielte im Fall von Hardheim das Aussterben im Mannesstamm zweier wichtiger Adelsgeschlechter und Würzburger Lehensträger eine große Rolle: zuerst der Grafen von Wertheim 1556; in einer Fehde mit den Erben gelang es Bischof Echter 1612, das Amt Schweinberg für Würzburg zu gewinnen. Dann der Herren von Hardheim selbst; Georg Wolf von Hardheim, der jüngste Sohn des Ritters Wolf von Hardheim, verstarb 1607 ohne männlichen Nachkommen. Würzburg zog seine Lehen ein.

Aber es vergingen noch einige Jahrzehnte, bis der katholische Glaube in Hardheim ganz durchgesetzt wurde. Bischof Echter ließ seinen Sieg durch eine Inschrift am Seitenportal der 1615 umgebauten Hardheimer Pfarrkirche dokumentieren, die folgendermaßen überliefert wird:

Hartheim, zu der Religion
Halte dich hart nun ohn vnd ohn,
Darzu dich wider hat bekehrdt
Bischof Julius, zu dessen Heerdt
Du bist vermannt, dem sei trew.
Dies Pfarrkirch er dir bawet new
Und wünscht, was man drin lehren thuet,
Viel Seelen daß es kom zue guet.

Aus dieser Konfessionsgeschichte heraus erklärt sich zum Teil die tiefe Volksfrömmigkeit, der Charakter des christlichen Hinterlands, des Madonnenländchens, in dem der Glaube der Menschen bis heute bildhaften Ausdruck in der Landschaft und in den Dörfern findet – in Form von Steinkreuzen und Bildstöcken, Hausmadonnen und volkstümlich gestalteten Heiligendarstellungen.

Wir halten zwei Punkte fest:

Durch die Reformation gelingt es dem ritterschaftlichen Adel in der Region vielfach, seine Position zu stärken, sich unabhängig zu machen von seinen Lehensherren, vielfach durchaus auf Dauer (so die jeweilige Familie Fortbestand hatte, wie etwa die Familie der Freiherren von Adelsheim, die von Berlichingen, von Gemmingen, Rüdt von Collenberg etc. )
Im Vergleich zwischen dem badischen Frankenland und anderen Regionen Südwestdeutschlands lassen sich Zusammenhänge zwischen Konfessionszugehörigkeit und Entwicklungsstand konstatieren, parallel zu dem vielfach konstatierten Phänomen, daß Industriestaaten mit überwiegend protestantischer Bevölkerung Ende des 19. Jahrhunderts weitaus höhere Wachstumsraten auswiesen als überwiegend katholisch geprägte Länder (Beispiel: England und Irland).

Im Zeitalter Napoleons

Auch in den Jahren der Auflösung des Alten Reichs im Zeitalter Napoleons gab es Verzögerungen der Entwicklung gegenüber anderen Regionen.

Bei der Neuordnung Deutschlands fielen zunächst im Reichsdeputationshauptschluß die kirchlichen Gebiete ebenso wie das kurpfälzische Oberamt Mosbach an das neu gegründete Fürstentum Leiningen, das auf diese Weise für seine territorialen Verluste in der Pfalz entschädigt wurde. Baden war noch immer sehr weit weg, und was uns heute als logische Entwicklung anmutet, war in den Jahren seit Beginn der Koalitionskriege keinesfalls erahnbar.

Erst 1806 – mit Abschluß der Rheinbund-Akte – streckte das 1803 zum Kurfürstentum und nach der Niederlegung der Kaiserkrone, als man keine Kurfürsten mehr brauchte, zum Großherzogtum umgewandelte Baden seine Finger nach Nordosten aus: Nun wurden die kleineren Fürsten und Standesherren mediatisiert, und das Fürstentum Leiningen fiel zu großen Teilen an Baden, ebenso Gebiete der Fürsten und Grafen von Löwenstein-Wertheim, der Freiherren Rüdt von Collenberg, der Freiherren von Gemmingen, der Freiherren von Berlichingen. Aus den Fränkischen Bewohnern der Region waren auf einmal Badener geworden – ein Wechsel auch im Selbstbild, der bis heute vielfach nicht vollzogen ist, schließlich ist Karlsruhe erheblich weiter weg als Würzburg.

Elmar Weiß berichtet in einem Aufsatz über den Kirchenkampf in Badisch Franken aus Grünsfeld im Jahr 1911, wo der Großherzog nach einem Unwetter persönlich inspizierte und sich darüber ärgerte, daß der Bürgermeister bayrische Truppen aus Würzburg zur Hilfe gerufen hatte, worauf sich dieser mit den Worten verteidigte: „Wir sind doch Franken und gehören von jeher nach Würzburg; alljährlich im Juli wallen unsere Leute zum Kiliansgrab, und auf der Würzburger Messe kaufen unsere Frauen, was sie brauchen.“

Dieses Selbstbild der Menschen in der Region trägt natürlich sein Teil bei zum Bild von Badisch Sibirien: Man geht am Oberrhein davon aus, im Zentrum zu wohnen, was ja auch die eigene Bedeutung unterstreicht, und die Bauern von dort hinten betrachten als Zentrum die Bischofsstadt Würzburg!

Im 19. Jahrhundert – Badisch Sibirien entsteht

Wir dringen nun langsam vor zum Kern des Themas; die Entwicklungslinien im 19. Jahrhundert, die ein komplexes Geflecht bilden, waren entscheidend für die Herausbildung des Begriffs vom Badisch Sibirien, der die Region jahrzehntelang treffend charakterisierte, wie das ja auch Adolf Kußmaul noch um die Jahrhundertwende herum konstatierte. Hier aber liegen auch die Wurzeln der heutigen Befindlichkeiten, hier liegt die Genese der sozialen und wirtschaftlichen Strukturen. Wir werden deshalb im folgenden die einzelnen Faktoren zu benennen haben, die die Entwicklung im 19. Jahrhundert bestimmt haben:

1. Mißlungene Integration in den badischen Staatsverband

Da ist zunächst von der mühsamen und in Teilen mißlungenen Integration der neu gewonnenen Gebiete in den badischen Staatsverband zu sprechen. Die Schwierigkeiten begannen schon bei der Einteilung der Gebiete in Ämter, die konfessionelle und historische Eigenarten berücksichtigen sollten, was jedoch aufgrund der engen Verzahnung, teilweise durch die Dörfer selbst hindurch, nicht möglich war.

Verkompliziert wurde die Lage überdies dadurch, daß in vielen Orten die früheren Ortsherren ihre standesherrschaftlichen Rechte behielten – man gehörte nun zu Baden, aber der Amtmann war noch immer ein Bediensteter der Fürsten von Leiningen; Gerichtshoheit und andere Rechte waren bei den Standesherrschaften verblieben. Überdies standen die grundherrschaftlichen Rechte der Feudalherren in diesen Jahren noch gar nicht zur Debatte.

Eine Gesamtsicht der mehrfach geänderten Verwaltungsstruktur würde an dieser Stelle viel zu weit führen; entscheidend ist, daß sich aufgrund der Zuordnung zu den Standesherrschaften sowohl bei der badischen Verwaltung als auch bei den Menschen in den betroffenen Orten kein Zugehörigkeitsgefühl herausbilden konnte. Überdies entsprach die standesherrschaftliche Verwaltung der Gebiete keinesfalls mehr dem Zug der Zeit – dies hat mit zum Gefühl des Zurückbleibens beigetragen.

2. Sozialstruktur

Soziale Brennpunkte: Wir haben schon von den klimatischen und landwirtschaftlichen Benachteiligungen der Region gehört; schlechtes Wetter und schlechte Böden führten dazu, daß die Menschen im Vergleich mit anderen Agrarregionen – etwa dem Kraichgau – relativ arm blieben. Dies wurde jedoch durch die Agrarkrise Anfang des 19. Jahrhunderts noch verschärft.

Starkes Bevölkerungswachstum, niedrige Erträge, Kriege und Mißernten führten deshalb gerade im Badischen Frankenland zu Hunger und Not – allein zwischen 1725 und 1806 hatte sich etwa die Bevölkerung in Hardheim und den ehemaligen Ortsteilen verdoppelt, bis 1871 sogar fast verdreifacht. Wie überall konnte das althergebrachte System der Dreifelderwirtschaft damit nicht Schritt halten.

Die Kriege im Zeitalter der französischen Revolution und gegen Napoleon verschlechterten die Lage weiter – Durchzüge, Einquartierungen, Kontributionen forderten auch im Erfatal ihren Tribut.

Eine Reihe von Mißernten vergrößerte die Not; vor allem das Jahr 1816 ging als „Jahr ohne Sommer“ in die Annalen ein, eine Folge des Ausbruchs des indonesischen Vulkans Tambora im Jahr 1815; Aschepartikel in der Atmosphäre und eine 70 km hohe Schwefelsäule führten in Mitteleuropa zu einem vollständigem Ausfall der Ernten und in der Folge zu Hunger vor allem unter den Armen.

Gerade in Gebieten wie dem badischen Frankenland führte diese Zuspitzung der Situation zu weiteren Rückständen und zu einer zunehmenden Landflucht, zunächst nach Amerika, seit dem ausgehenden Jahrhundert dann in die entstehenden industriellen Zentren wie Mannheim.

Die Region selbst blieb zunächst rein agrarisch strukturiert, was in der begonnen industriellen Revolution den Abstand zu den Zentren dieser Entwicklung vergrößerte.

3. Konfession

Über die konfessionellen Zusammenhänge haben wir schon gehört – das „Badisch Christliche Hinterland“ galt als „schwarz“, war überwiegend katholisch geprägt. Und die Konfessionszugehörigkeit weist hier noch immer eine hohe Übereinstimmungsrate mit den Stimmenanteilen der konservativen Parteien auf – das ist bemerkenswert, aber keineswegs einmalig im Land.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang sicherlich auch, daß im 19. Jahrhundert die Zugehörigkeit der Region zur katholischen Konfession mit einer Ablehnung des badischen Staates einher ging – hier fällt das Stichwort Kirchen- oder Kulturkampf, als der badische Staat versuchte, das kirchliche Leben zu reglementieren, begonnen mit einer Neueinteilung der Diözesen (seit 1821 gibt es eine badische Kirchenprovinz, 1827 wird der Freiburger Bischofsstuhl erstmals besetzt), bis hin zum modernen Investiturstreit, der Mitte des 19. Jahrhunderts im badischen Frankenland fast zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen führte – Pfarrer wurden ins Gefängnis gesteckt, bewaffnete Volkshaufen versuchten sie zu schützen. Zu den Gemeinden, in denen sich Pfarrer und Gläubige zu „offener Auflehnung“ hinreißen ließen, gehörte auch der heutige Hardheimer Ortsteil Bretzingen.

4. Revolution

Die Herausbildung des Bürgertums und seiner Werte wirft ein weiteres Licht auf die etwas andere Entwicklung der Region im 19. Jahrhundert. Exemplarisch hier an dieser Stelle ein Ereignis der „bürgerlichen“ Revolution von 1848/49 in Hardheim:

Wie in anderen Orten des badischen Hinterlandes richtete sich die Revolution auch in Hardheim zunächst nicht gegen den Großherzog und die badische Regierung, sondern gegen die Standesherrschaft, die im Erfatal ihre feudalen Rechte behalten hatte: Hardheim gehörte seit 1802 zum Gebiet des Fürsten von Leiningen, der in Amorbach residierte.

Zu Beginn des Jahres 1848 wurden die Vorgänge in den größeren Städten des Großherzogtums Baden auch in Hardheim bekannt, nicht zuletzt durch die am 1. März 1848 gewährte „Preßfreiheit“ und die Aufhebung des seither gültigen Versammlungsverbots. Und nachdem in einigen benachbarten Dörfern und Städtchen der Aufstand gegen die Standesherrschaften losgebrochen war, kam es auch am 8. März 1848 in Hardheim erstmals zu größeren „Zusammenrottungen“, die jedoch zunächst von einer schnell aufgestellten Selbsthilfetruppe „der besser gesinnten Bürger“ aufgelöst werden konnten. Erst am frühen Morgen des 10. März eskalierte die Situation und eine große Zahl von Hardheimern erbrach – unter der Parole „Es lebe der Großherzog!“ – die Türen zum „Schüttungsbau“, dem Getreidespeicher des Fürsten von Leiningen. Insgesamt wurden 1500 Malter Getreide – über 100 Tonnen – aus dem Gebäude gebracht; auch Akten und Urkunden wurden verbrannt.

Während in Frankfurt im Sommer in der Nationalversammlung die neue demokratische Verfassung beraten wurde, setzte der Fürst von Leiningen gegenüber der Gemeinde Hardheim eine Schadensersatzforderung in Höhe von 2.500 fl. durch. Zwölf Hardheimer wurden zu Geld- und Gefängnisstrafen verurteilt.

Aufgeschreckt durch die gewaltsamen Ereignisse am 10. März bildete sich schon in den folgenden Tagen eine Bürgerwehr, für die das „Großherzoglich Badisch Wohllöbliche Commando des Infanterie=Regiments von Freydorf Nr. 4“ 50 Gewehre zur Verfügung stellte. Die Gewehre wurden in Hardheim an die Bürgerwehrmänner ausgegeben, allerdings gerieten Gemeinde und Bürgerwehr derartig in Zahlungsverzug, daß das badische Kriegsministerium im Oktober 1848 die Gewehre wieder einziehen ließ. Die Bürgerwehr wurde daraufhin wieder aufgelöst. Immerhin wurde mit ihr wohl der Grundstein gelegt zur Bildung eines bürgerlichen Honoratiorenvereins, der unter dem Namen „Casino-Gesellschaft“ im Jahrzehnt nach 1848 die „bessere Gesellschaft“ Hardheims in sich vereinigte.

5. Infrastruktur

Im Zusammenhang mit der beginnenden industriellen Revolution spielte der Ausbau der Verkehrswege eine zentrale Rolle – die gewerbliche Entwicklung setzte dort bevorzugt ein, wo Verkehrswege vorhanden und leicht auszubauen waren. Dies gilt etwa für Mannheim, gelegen an zwei Schiffahrtswegen, und das schon im ersten Schritt in das neue Eisenbahnnetz einbezogen wurde.

Eisenbahn

Wieviel anders in Badisch Sibirien: Schon ein Blick auf das Straßennetz der frühen Neuzeit zeigt, daß nur am Rand größere Fernwege verliefen. Dies ändert sich zwar im 18. Jahrhundert, als mit dem Ausbau der Postrouten auch Buchen und Hardheim einbezogen wurden; letzteres wurde Poststation und hat dieser Tatsache einige positive Entwicklungsaspekte zu verdanken.

Aber: Wasserstraßen gibt es keine (wenngleich sich die fürstbischöfliche Verwaltung in Würzburg Anfangs des 18. Jahrhunderts wohl Gedanken darüber gemacht hat, die kleine Erfa „vielleicht mit schlüßen wohl zu Effictuirn“ – schiffbar zu machen?)

Und das Symbol des Fortschritts schlechthin, die Eisenbahn, bleibt am Rande, während die innere Erschließung des Raumes zu spät kommt (Hardheim 1911, Königheim 1914!).

Die schlechte Verkehrsstruktur hat sich im übrigen bis heute erhalten: das Netz der Autobahnen umfährt das Gebiet; moderne Nahverkehrskonzepte – etwa eine Wiederbelebung der vorhandenen Schienenstränge bis Hardheim durch eine S-Bahn – erweisen sich bislang als schwer durchsetzbar.

Geleitstraßen und Eisenbahnnetz
6. Ein letztes Stichwort: Industrialisierung

Die „Rückständigkeit“ der Region hat sich gerade auch in der Abwesenheit industrieller Zentren manifestiert. Bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg blieben Betriebe wie der Hardheimer Mühlenbaubetrieb Adolf & Albrecht Eirich oder die Maschinenfabrik Gustav Eirich Seltenheiten.

Die Region blieb dadurch länger und in höherem Maße agrarisch strukturiert (in Anbetracht der konstatierten geringeren Fruchtbarkeit von Boden und Klima eigentlich ein Paradoxon, aber nicht allein hier zu beobachten); der Anteil der Landwirtschaft ist bis heute vergleichsweise hoch.

Dies hat das Bild vom rückständigen Badisch Sibirien am nachhaltigsten beeinflußt; aber der weitere, sowohl quantitative als auch qualitative Bedeutungsverlust des agrarischen Sektors im Prozeß des Wandels von der Industrie- zur Dienstleistungs- und weiter zur Informationsgesellschaft trägt dazu bei, daß sich das Außenbild der Region – langsam – ändert, zumal auch das produzierende Gewerbe hier an Bedeutung gewinnt.

Und heute…

Badisch Sibirien ist zwar bis heute Grenzraum geblieben, aber gegenüber den geschilderten Rückständen im 19. Jahrhundert hat sich die Lage ausgangs des 20. Jahrhunderts grundlegend verändert. Hier zum Abschluß einige unsystematische Betrachtungen über „Badisch Sibirien“ heute:

Je näher man – geographisch gesehen – an das Hinterland heranrückt, um so mehr grenzt man sich davon ab und ignoriert, daß die Region längst nicht mehr dem Bild von der Einöde entspricht – viele Beispiele belegen, daß man in manchen Feldern nicht nur aufgeholt hat (etwa im kulturellen und natürlich auch im Museumsbereich, wo wir hier in Hardheim schon mehrfach bescheinigt bekommen haben, daß wir zu den besten gehören).
Die kulturelle Kluft zwischen Stadt und Land, Hinterland und Zentrum wurde seit den sechziger Jahren – vor allem durch den Einfluß der Massenmedien – zunehmend eingeebnet; man sieht einer Schulklasse aus Buchen bei der Klassenfahrt nach Berlin ihre Herkunft nicht mehr an.
Im Selbstbild kann man zunehmend trotzigen Stolz konstatieren: Wir in Badisch Sibirien! Die ursprünglich sehr negative Bezeichnung gewinnt an positiver Bedeutung – Beispiele wie die Vereinsnamen etc. haben wir zu Beginn betrachtet. Dieser Prozeß wird sich fortsetzen – eine so markante und unverwechselbare Bezeichnung wie „Badisch Sibirien“ hätte sogar das Zeug zum Marketingstar.
Im Zeitalter der elektronischen Medien und Kommunikationsmittel verlieren geographische Zentren an Bedeutung – im Internet ist es gleichgültig, ob ein Server in Buchen oder in Mannheim steht. Und je weniger Güter und Dienstleistungen auf kurze Wege angewiesen sind, um so mehr treten andere Standortfaktoren wie günstige Grundstückspreise und hoher Wohnwert in den Vordergrund.
Aber: Gerade im Bereich der neuen Technologien und Dienstleistungen sind weitere Standortfaktoren bedeutsam – v.a. die Kultur und der Nahverkehr, Bereiche, in denen noch einiges getan werden kann.

Am Ende der historischen Betrachtung sind wir damit in der Gegenwart angekommen; wir haben gesehen, an welchen Schnittstellen die Region ins Hintertreffen geriet und Hinterland wurde und lange blieb; wir konnten allerdings nicht konkret nachweisen, wo ihr der Name Badisch Sibirien angeheftet wurde.

Aber die historische Betrachtung zeigt auch – wieder einmal – den Wandel, den fortdauernden und immer währenden: Bilder und Namen wie Badisch Sibirien haben zwar eine große Beharrlichkeit, wenn sie sich einmal festgesetzt haben, aber ihr Bedeutungsinhalt wandelt sich dann, wenn sich auch das wandelt, was damit bezeichnet wird; wo sich die Region modernisiert, verändert auch der Name Badisch Sibirien seinen Klang, und wenn man weiter Anschluß sucht und findet, und Gründe hat zum Selbstbewußtsein, dann kann ein positiver Begriff daraus werden. Einmalig und markant ist es schon, das Wort vom Badisch Sibirien.



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