Das Gemeindejubiläum
Im Jahr 2000 feierte die Gemeinde Hardheim ein doppeltes Jubiläum: vor 950 Jahren wurde Hardheim zum ersten Mal schriftlich erwähnt, und im Jahr 1975 entstand mit dem Ende der Kommunalreform die Gemeinde in der heutigen Form.
Aus diesem Anlaß zeigte das Erfatal-Museum von 18. März bis 15. Oktober 2000 die Ausstellung
„ML – anno 1050. Hardheim vor (fast) 1000 Jahren“
ML – diese beiden Buchstaben standen als Motto über einer Ausstellung des Erfatal-Museums Hardheim. Buchstaben? Die Assoziation zu Mona Lisa oder Millenium führt in die Irre. M und L stehen als römische Ziffern für die Zahl 1050 – zur Zeit der ersten Erwähnung von Hardheim vor 950 Jahren die gebräuchliche Art, Jahreszahlen wiederzugeben.
Die Ausstellung führte auf vielfältige Art die Besucher zurück zum Beginn des zweiten Jahrtausends nach Christus – neben Modellen, PC-Animationen und AV-Medien standen v.a. zeitgenössische Bilder im Vordergrund; Themen wie Besiedlung, Dorf und Bauern, Burg und Adel, Kirche und Politik im Zeitalter der Salier zeichnen ein buntes Kaleidoskop des Lebens um 1050, als Hardheim zum ersten Mal in das Licht der Geschichte trat.
Trotz aller wissenschaftlichen Sorgfalt, die das Team um Museumsleiter Peter Wanner walten ließ, zeigte man Mut zur Anschaulichkeit auch dort, wo nur wenige historische Fakten vorlagen. Dies galt etwa für eine 3-D-Animation, in der das Dorf Hardheim im 11. Jahrhundert (und zum Vergleich auch im 16. und im 20. Jahrhundert) virtuell „begehbar“ wurde (dieses Projekt wurde in Zusammenarbeit mit Magic Maps realisiert).
Einige der technischen und ausstellungsdidaktischen Lösungen waren erstmals zu sehen; sie wurden in Zusammenarbeit mit verschiedenen Firmen und Ausstellungsgestaltern entwickelt – vor allem die neuartige „Lesemaschine“, mit der die Besucher die Handschrift, der Hardheim seine erste Erwähnung verdankt, selbst erkunden konnten.
Der Festvortrag
(Der Text des Vortrags von Museumsleiter Peter Wanner; 18. März 2000)
Eine Gemeinde feiert Jubiläum; das ist landauf landab ein normaler Vorgang. Und meist schwirren uns Zahlen wie 1200 und 1250 Jahre um den Kopf. Und es gibt ja auch viele Gründe, zu feiern:
Ein Gemeindejubiläum stärkt das Zusammengehörigkeitsgefühl; die Bürger gestalten ihre Feiern gemeinsam, planen Marktstände und kostümieren sich, schreiben Theaterstücke und führen sie auf, hämmern und bohren und sägen und malen bei der Vorbereitung von Ausstellungen, ja – sie spielen sogar gemeinsam Handball, und das lange 24 Stunden lang. Ein Gemeindejubiläum, das ist eine Frischzellentherapie für den Gemeinschaftssinn in der Gemeinde. Und so besehen schon fast ein ausreichender Grund, Jubiläum zu feiern.
Aber so ein Jubiläum ist auch eine Gelegenheit, sich zu besinnen – auf die eigene Vergangenheit, die Entwicklung des Gemeinwesens in den letzten Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten. Quellen und Dokumente werden studiert, Heimatbücher und Ortschroniken geschrieben, und das Suchen nach der eigenen Geschichte, das Aufzeichnen der eigenen Geschichte stärkt die Identität mit dem Gemeinwesen. Auch gut.
Nicht vergessen wollen wir den wirtschaftlichen Aspekt: Es wird etwas in Bewegung gesetzt, was auch einen finanziellen Ertrag verspricht: Besucher kommen in die Gemeinde, die Handwerker vor Ort haben zu tun mit dem Herausputzen des öffentlichen Raums und manch anderen Investitionen aus Anlaß des Jubiläums.
Und last but not least: So ein Jubiläum ist gut für das Image der Gemeinde; man wird wahrgenommen, die Zeitungen berichten über die Vorbereitungen und die Veranstaltungen in der Gemeinde, und auch das ist gut.
Wir sehen also: So viele gute Gründe, zu feiern, daß man fast auch ohne Anlaß auf die Idee kommen könnte, dies zu tun.
Der Anlaß der Feiern: Ein doppeltes Jubiläum
Aber natürlich hat Hardheim Anlässe zu feiern. Zuallererst ist es genau 25 Jahre her, daß die Gemeindereform ihren Abschluß fand und die letzten der heutigen Ortsteile zu Hardheim stießen – oder vielmehr gestoßen wurden. Und es ist dies ein Jubiläum, das nicht nur die Magie der runden Zahl für sich hat, sondern das zudem mit einem exakten Datum verbunden ist und deshalb einen ganz augenfälligen Anlaß bietet.
Das gilt nämlich für den zweiten Grund der Feier nicht in uneingeschränktem Maße – und damit kommen wir zum eigentlichen Thema heute abend, zur ersten Erwähnung von Hardheim, Bretzingen und Vollmersdorf vor fast 1000 Jahren, wie es im Untertitel zu unserer historischen Ausstellung heißt.
Daß wir hier nur ein beschränkt faßbares Datum haben, hat zunächst damit zu tun, daß die erste Erwähnung eines Ortsnamens in der schriftlichen Überlieferung keineswegs ein Geburtsdatum ist (eine Ausnahme bilden hier lediglich die späten Gründungen wie etwa Karlsruhe und Ludwigshafen oder Freudenstadt im Schwarzwald). Unsere Dörfer sind meist weitaus älter, als diese ersten Erwähnungen nahelegen – Hardheim ist also keineswegs erst 1000 Jahre alt, sondern vielleicht 1300 oder gar 1400 Jahre. Wie alt, das wissen wir nicht.
Eine erste Erwähnung ist dabei ein Zufall: sie findet sich nicht im ältesten Schriftstück, das über die Gemeinde angelegt wurde, sondern in dem Schriftstück, das bis heute überlebt hat. Gerade aus dem frühen Mittelalter ist das aber nur ein Bruchteil dessen, was geschrieben wurde. Vielfältig sind die Möglichkeiten, daß Urkunden vernichtet wurden, durch Feuer und Mäuse, Wasser und unachtsame Schreiber, die beim Kopieren das Tintenfäßchen umstoßen. Auch heute kann das offensichtlich noch passieren, wenn wir an gewisse Akten im Bundeskanzleramt denken.
Dazu kommt noch, daß in den Anfangsjahren und Jahrhunderten der germanischen Besiedlung Rechtsgeschäfte nicht der Schriftform bedurften. Man machte die Sache mündlich ab, vor Zeugen, und das Wissen um solche Rechts- und Besitzzustände wurde auch mündlich überliefert. Das hing nicht zuletzt damit zusammen, daß das Schreiben und die Schrift im frühen Mittelalter nur gebildeten Klerikern geläufig waren.
So ist eine erste Erwähnung nichts weiter als ein zufälliges Aufblitzen von Gewißheit im langen Lauf der Geschichte – ähnlich wie ein zufälliger archäologischer Fund. Und wir Historiker können in dem Licht, das diese kurzen Blitze in die frühe Geschichte werfen, auch nur wenig erkennen, nur die groben Grundzüge, nur Konturen. Für mehr fehlt das Licht.
Hardheim und seine Ersterwähnungen
Wenn wir also keinen Geburtstag feiern können, so doch die erste Erwähnung, den ersten datierbaren Nachweis der Existenz einer Siedlung. Und das tun wir, obgleich Hardheim im speziellen in dieser Frage leidgeprüft ist.
Schon 1982 wollte man zum Jubiläum rüsten, in vielen Büchern stand es geschrieben, daß Hardheim im Jahr 782 erstmals erwähnt sei. Das wäre eine 1200-Jahr-Feier geworden! Aber die Historiker waren die Spielverderber: Sie hatten schon lange vorher auf den Irrtum aufmerksam gemacht, in dem Hardheim der Lorscher Urkunden das Hardheim im Erfatal zu suchen. Schließlich ist Hardheim kein gerade seltener Name; gemeint ist im Lorscher Kodex bei 24 Nennungen (!) 22 Mal eine Wüstung nahe Lohrbach bei Mosbach (die sogar schon 765 erstmals auftaucht!), und 2 Mal ein Ort im Breisgau. Und das ist eindeutig, weil immer wieder Lohrbach selbst mitgenannt ist.
Als nächstes Datum stand das Jahr 1996 auf der Jubiläumsliste – in einer Urkunde des Kaisers Otto III. vom 18. Dezember 996, in dem dieser dem Kloster Amorbach Güter und Rechte bestätigt, ist unter anderem Amorbacher Besitz auch Hardheim aufgeführt. Aber – leider! – die Urkunde ist falsch; man kennt sie nur als Abschrift aus dem 13. Jahrhundert, und ob sie jemals existiert hat, ist unbekannt. Sie ist nichts weiter als Teil eines kirchen- und besitzrechtlichen Ränkespiels, in dem sich der Würzburger Bischof die ehemals königliche Abtei Amorbach einverleibt hat. So gab‘s 1996 zwar keine 1000-Jahr-Feier in Hardheim, aber wir haben es uns damals nicht nehmen lassen und haben dem Fälscher eine kleine Ausstellung gewidmet.
Die Amorbacher Traditionsnotizen
Die Amorbacher Traditionsnotizen sind eine der wichtigsten Quellen zur hochmittelalterlichen Geschichte des hinteren Odenwalds: Sie sind das älteste Besitzverzeichnis des Klosters Amorbach. Güter in 52 Orten der Region sind hier aufgeführt, wobei einige zweimal genannt sind. Zu diesen Orten zählen auch Hardheim, Bretzingen und Vollmersdorf.
Also, werden Sie sagen, da haben wir doch die erste Erwähnung, jetzt können wir feiern, wozu also das ganze Gerede?
Langsam, sagt da der Historiker. Schauen wir uns die Quelle doch erst einmal genauer an. Zunächst: Im Gegensatz zu einer Urkunde sind diese Notizen nicht datiert. Der Mönch war kein moderner Beamter, der seine Aktennotiz mit Handzeichen und Datum versieht. Und im Text selbst werden gleichfalls keine Daten genannt. Da steht also nicht, daß Hardheim am 18. März 1050 an Amorbach gekommen ist.
Die Äbte des Klosters Amorbach
Ganz aussichtslos ist die Lage aber wiederum nicht, denn es werden Namen genannt, Namen von Schenkern und Verkäufern, und Namen von Würzburger Bischöfen und Äbten des Klosters Amorbach. Und so kann zunächst der Zeitraum bestimmt werden, in dem die Erwähnungen in den Notizen unseres Mönchs liegen: zwischen etwa 1050 und 1120, grob gesagt also: um 1100. Und dort, wo ein bestimmter Ortsname mit einem Personennamen verknüpft ist, kann man noch genauer werden.
Von Hardheim heißt es: Dns Bruno abbas comparauit allodia hominum (…) aliud in Harthem. – Herr Bruno, Abt, kaufte Allodialgüter (Eigengüter) aus Privathand, darunter eines in Hardheim.
Nun erhebt sich also nur noch die Frage: Wann war Bruno Abt in Amorbach?
Der erste Chronist des Klosters, Pater Ignaz Gropp, nannte 1736 in seiner „Historia Monasterii Amorbacensis“ die Namen von fünf Amorbacher Äbten des 11. Jahrhunderts: Richard, Walter, Ezzelin, Bruno und noch einmal ein Richard. Drei davon erscheinen auch in unserer Quelle, zwei davon – Bruno und Richard – je zwei Mal. An anderen Stellen werden außerdem ein Otto zu Beginn des Jahrhunderts und vielleicht ein weiterer Bruno am Ende – 1091 – genannt.
Unser Bruno war nach Pater Gropp der Abt der Jahrhundertmitte; seine Amtszeit läßt sich etwa auf die Jahre zwischen 1050 und 1062 eingrenzen, wie das die Hardheimer Lokalgeschichtsschreibung bei Julius Rapp und Robert Hensle auch getan hat.
Ansonsten finden wir nur widersprüchliche Angaben zu den Amorbacher Äbten im 11. Jahrhundert. Man hat noch kein Register geführt, es gibt weder Einsetzungs- noch Sterbeurkunden, nur hie und da Hinweise auf den einen oder anderen, bisher noch nicht systematisch ausgewertet: Eine noch unerledigte Aufgabe für die Forschung.
Was heißt das für uns? Die erste Erwähnung von Hardheim ist mit diesem Abt Bruno verknüpft, während seiner Amtszeit wurde ein Gut hier für das Kloster erworben, im Zusammenhang mit der schriftlichen Notierung dieses Geschäfts der Name Hardheim zum ersten Mal erwähnt; und die Amtszeit des Abtes Bruno erstreckte sich von 1050 bis 1062. Wenn wir es nun genau nehmen, dann können wir ein Dutzend Jahre lang feiern, denn wann genau der Gütererwerb in Hardheim stattfand, das wissen wir nicht.
Noch schlechter sieht es mit Bretzingen und Vollmersdorf aus: Eine Hiltegart schenkte danach am Todestag ihres Mannes Ulrich Güter in Volmarsdorf et in Gerach an das Kloster: Wir wissen nicht, wann genau das war, so wenig wie im Fall von Bretzingen, wo eine Regelint die Kirche an das Kloster gibt.
Das Millenium
Was bleibt? Wir haben das Jubiläum, für das es ja viele gute Gründe gibt, mit Vorbedacht auf das Jahr 2000 gelegt, um doppelt feiern zu können. Ja dreifach: Denn wir haben ja vor wenigen Wochen auch (mathematisch nicht ganz korrekt) den Beginn eines neuen Milleniums gefeiert.
Das erscheint uns heute schon fast wieder vorbei, so schnellebig ist unsere Zeit; sie ist so schnellebig, daß etwa die Heidelberger Wasserschutzpolizei schon Ende Januar 2000 vor einem drohenden „Jahrtausend“-Hochwasser warnte. Das Hochwasser kam nicht, noch nicht einmal ein Jahreshochwasser.
Drei Wochen für ein ganzes Jahrtausend… Diese Tendenz war schon in den achtziger und neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts zu beobachten, als es fast jährlich bei der Weinlese einen Jahrhundertjahrgang gab, ebenso häufig natürlich auch Jahrhunderthochwasser, -sensationen, -erfolge usw. Und auch der Werberummel um das Millenium mit einer Flut von Milleniums- (und das heißt ja nichts anderes als Jahrtausend-)produkten, von der Leberwurst bis hin zur Unterhose, belegt diese Schnellebigkeit (und natürlich auch die allgemein vorherrschende Ungenauigkeit des Sprechens).
Aber so wie das begonnene Jahrtausend im öffentlichen Bewußtsein auf drei Wochen schrumpft – denn wer kann schon ermessen, welche Hochwasserkatastrophen in den nächsten 1000 Jahren uns beschert werden? – , so schrumpft in diesem Bewußtsein auch das vergangene Jahrtausend zusammen.
950 Jahre ist es her, daß wir eine erste Nachricht über das Dorf Hardheim erhalten. 950, fast 1000 Jahre – wie lange das her ist, kann uns die abstrakte Zahlenvorstellung gar nicht wiedergeben.
Das Mittelalter, das wissen wir alle, ist schon lange vorbei. Aber wer macht sich schon klar, daß dieses „Mittelalter“ selbst etwa 700 Jahre umfaßt! Und was hat Karl der Große, der nach allgemeiner Ansicht am Beginn dieser Epoche steht, mit Johannes Gutenberg, dem Erfinder des Buchdrucks und damit – wenn man so will – einem der Totengräber des Mittelalters zu tun? Wo liegt die Gemeinsamkeit zwischen Beda Venerabilis, Historiker und Mathematiker des 7. Jahrhunderts, und Leonardo da Vinci?
Wir Historiker sind immer schnell mit Epochenbegriffen zur Hand, und wir werfen mit Jahrhunderten um uns; wir zeigen große Linien auf und schildern vergangene Lebensverhältnisse. Aber wie lange 950 Jahre eigentlich her sind, das können wir nur schwer vermitteln. Geschichte, das ist früher, und Mittelalter ist irgendwie zwischen Jahrhundertwende und den Römern.
Die Zeitreise
Der Schriftsteller und Mediävist – Mittelalterkundler – Dieter Kühn hat in seinem Buch über Wolfram von Eschenbach, den berühmten Dichter des Parzival, den Versuch unternommen, diese zeitliche Entfernung der mittelalterlichen Welt von unserer mit einer Reisebeschreibung zu verknüpfen; er setzte für jedes Jahr einen Kilometer an – in seinem Fall waren 750 Jahre zu überwinden, und er wählte als Startplatz seinen Wohnort in der Eifel, und als Ziel Wolframseschenbach in Franken.
Das ist ein interessanter Gedanke, den wir uns einmal zu eigen machen wollen – lassen Sie uns deshalb ebenfalls die Zeitreise mit einer Reisebeschreibung verknüpfen; wir wollen einmal sehen, ob wir auf diese Weise auch 950 Jahre zurücklegen können.
Wenn wir im Jahr 2000 in Hardheim starten, dann wählen wir als Verkehrsmittel ein etwas betagteres Fahrzeug, etwa einen frühen Golf, um nicht gleich wechseln zu müssen; wir fahren am Vormittag los, über Bretzingen, Erfeld und Gerichtstetten zur Autobahnanschlußstelle Boxberg: das sind 20 Kilometer; wir sind schon im Jahr 1980 angekommen, und deshalb müssen wir schon nach 7 km die Autobahn verlassen – vor 1973 gab es sie noch nicht. Und gleichzeitig ist doch der erste Umstieg angesagt, auf ein älteres Auto, bleiben wir dabei und nehmen nun einen Käfer. Die Fahrt wird mühsamer: Über Osterburken, Adelsheim und Roigheim kommen wir nach Möckmühl und sind schon in der Nachkriegszeit angekommen. Wir schreiben 1946, und unser Auto ist ein Vorkriegsmodell mit Holzvergaser. Benzin gibt es keines.
Über die Kriegsjahre gelangen wir zurück nach Siglingen; als wir in Stein am Kocher ankommen, begegnen ersten Aufmärschen der SA – 1933. Nur wenige Jahre und Kilometer trennen uns von Kochendorf, wo wir auf den Zug umsteigen: Autos gibt es kaum, zumal sie im Ersten Weltkrieg zumeist für das Militär konfisziert wurden. Aber auch mit dem Zug reisen wir schnell, und an der nächsten größeren Station, in Heilbronn, sind wir im Jahr 1905 angekommen.
Wenn wir uns die Stadt betrachten, so sehen wir uns schon fast in das Mittelalter zurückversetzt: Krumme Gassen, Fachwerkhäuser, Marktgedränge um die Kirche der Stadt herum.
Aber wir lassen uns nicht aufhalten: noch 855 Jahre und Kilometer liegen vor uns. Der Zug bringt uns zunächst auch schnell weiter – aber nicht ganz bis Stuttgart. Noch vor den Toren der Stadt erreichen wir das Jahr 1848 und müssen aussteigen – in Zuffenhausen. Noch finden wir schnell einen Fuhrmann, der uns über das Wirtshaus auf dem Pragsattel hinab in die Württembergische Residenz bringt. Es ist später Abend geworden, wir müssen zum ersten Mal übernachten.
Für die Weiterfahrt begeben wir uns auf die Post: Mit der regelmäßig verkehrenden Postkutsche verlassen wir die Stadt in Richtung Ulm. Zunächst geht die Reise über die „Chaussee“, eine württembergische Errungenschaft aus den Zeiten Herzog Karl Eugens. Aber schon auf der Schwäbischen Alb wird der Weg schlecht, die Kutsche kommt nur langsam voran auf der holprigen Piste, bleibt bei Regen stecken oder mit einem Achsbruch liegen. Wir begegnen vielen Soldaten, Franzosen, Russen, Spaniern, und als wir etwa 1740 in der Donaustadt ankommen, müssen wir uns dem reichsstädtischen Wächter am Tor ausweisen.
Von hier aus geht es nur noch langsam voran: Manchmal auf einem Pferde- oder Ochsenkarren, häufiger einfach zu Fuß. Es gibt keine regelmäßigen Verbindungen zwischen den Städten, es gibt keine Straßen. Es ist zum Verzweifeln: Wir sind gerade mal seit 310 Jahren unterwegs, haben noch 640 km vor uns, und wir ahnen es: Es ist eine lange Zeit notwendig, um ans Ziel zu kommen. Monate werden vergehen, mit Tagesschnitten um die 10 oder 15 km. Wir werden – vor allem im Gebirge und abseits der großen Handelsrouten – weder Weg noch Steg vor uns haben. Wir müssen durch Kriegszeiten hindurch und an Räubernestern vorbei; dichter Wald und Sumpfgebiete, wilde Tiere und marodierende Söldner – all das kann uns begegnen auf unserem Weg zurück in das Jahr 1050. Wir wählen von Ulm aus die Route der mittelalterlichen Kaiser nach Oberitalien, wollen dort Heinrich III. treffen, den Kaiser, in dessen Regierungszeit die erste Erwähnung Hardheims fällt.
Und wenn wir endlich angekommen sein werden, dann können wir ermessen, wie lange 950 Jahre sind: fast 500 Jahre vor Martin Luther, 300 Jahre vor der großen Pestepidemie des 14. Jahrhunderts, fast 140 Jahre vor dem Tod Kaiser Barbarossas auf dem Kreuzzug.
Beschreibung einer längst vergangenen Zeit
Wir sind angekommen im 11. Jahrhundert. Aber was wissen wir über Hardheim, über das Erfatal, über diese Zeit?
Wir wissen viel und doch wieder wenig. Zunächst die elementaren Dinge: Essen und Trinken. Die Ernährung war im Vergleich mit heute sehr einfach; man aß nur das, was man auch selbst anbaute. Zu den Hauptnahrungsmitteln gehörten Roggen (als wichtigste Getreideart), Gerste, Saatweizen, Hafer, Rispenhirse, Dinkel, Emmer. Auch Milchprodukte – wie Käse, Butter, Milch und Molke – zählten zu den Grundnahrungsmitteln.
Daneben kannte man an Gemüsen Sellerie, Mangold, Erbsen, Pferdebohnen, Kraut, Kohl, Kürbis und Rüben sowie als Wildgemüse Feldsalat, Ampfer, Brennesseln und Melde. An Obst dann verschiedene Pflaumensorten, Kirschen, Äpfel, Birnen, Schlehen, Kornelkirschen und Beeren, teilweise angebaut oder gesammelt.
Zum Würzen benutzte man u.a. Knoblauch, Dill und Koriander. Öl gewannen die Menschen aus Lein, aber auch aus Bucheckern und Haselnüssen. Zum Süßen von Speisen gab es – nur für die Reichen – nur Honig.
Das wichtigste Volksgetränk im Mittelalter war – auch für Kinder – Bier, das aus sämtlichen Getreidearten hergestellt und durch Zusetzen von Hopfen haltbar gemacht wurde.
Was hatten die Leute an? Die Bauern trugen einem knielangen, gegürteten Kittel. Als Kopfbedeckung diente ein Strohhut. Frauen trugen einen knöchellangen gerafften, mit einer Fibel – einer Gewandnadel, die in gehobeneren Kreisen auch als Schmuckstück diente – zusammengehaltenen Rock.
Hergestellt wurde die bäuerliche Kleidung aus einem einfachen Wollstoff, wasserabweisendem Loden, Leinen oder Hanf. Im Winter schützte man sich vor Kälte mit Pelzen von Schaf, Bär, Wolf oder Iltis.
Als Fußbekleidung hatten Männer wie Frauen einen hohen, sockenartigen Schuh bzw. Stiefel aus Rindsleder oder aus Filz („Bundschuh“). Unter dem knielangen Rock trug man Halbstrümpfe (Beinlinge), die bis über das Knie reichten und mit Binden oder einem Strumpfband befestigt wurden. An Unterkleidung gab es ein Hemd sowie die Bruech, eine seitlich oder vorne geknotete Hose.
Man wohnte auf dem Land in Pfostenhäusern mit Strohdächern; die Wände zwischen den Pfosten bestanden aus mit Lehm verschmiertem Flechtwerk. Innerhalb der kleinen Häuser gab es teilweise keine Wände; die offene Feuerstelle hatte keinen eigentlichen Kamin.
Die Häuser gruppierten sich noch nicht in der uns bekannten Form zu Dörfern; sie lagen vielmehr als Einzelgehöfte locker verstreut. „Richtige“ Dörfer entstanden erst im Spätmittelalter, also 200 oder 300 Jahre später.
Immerhin: Bestandteil der Siedlungen waren auch Kirchen, oft sogenannte Eigenkirchen im Besitz des Grundherrn. Eine solche Kirche ist für das Erfatal in Bretzingen nachzuweisen, denn sonst hätte jene Regelint sie ja nicht dem Kloster Amorbach schenken können.
Regelint war mit Sicherheit eine adlige Dame. Und damit kommen wir zum Gesellschaftsaufbau.
Schon im frühen Mittelalter hoben sich die sogenannten nobiles (lat. Vornehme, Adlige) von der Masse der Gesellschaft ab. Sie wurden später auch als Edelfreie oder Edelinge bezeichnet. Die mächtigsten dieser nobiles, die Führer der germanischen Stämme, wurden principes (Führer) genannt. Der Adel unterschied sich von anderen Freien durch großen Besitz, der von Abhängigen und Unfreien bewirtschaftet wurde.
Aus den principes sowie ihnen nahestehenden nobiles und nichtadligen Freien entstand bis zum hohen Mittelalter ein adliger Geburtsstand, der sich gegenüber den unteren Ständen zunehmend abschloß.
Zu diesen Adligen gehörte auch die Familie, die sich spätestens seit 1137 nach ihrer Burg, der Schweinburg, benannte.
Mit dem Beginn des hohen Mittelalters entstand daneben der Dienstadel, in den sowohl freie Bauern als auch Unfreie aufsteigen konnten. Zeichnete sich ein freier Bauer oder ein Unfreier als Dienstmann (Ministeriale) eines Adligen durch besondere Dienste in der Verwaltung, im Kriegs- oder Ritterdienst aus, so konnte er für seine Leistungen ein Dienstlehen empfangen. Damit war es ihm möglich, wie ein Edelfreier zu leben.
Vielen Ministerialenfamilien gelang es im Laufe Mittelalters, daraus erbliche Lehen zu machen. Ein Beispiel für einen solchen Aufstieg bietet die Familie von Hardheim. Heinrich von Hardheim, der als erster aus der Familie im Jahr 1197 erwähnt wird, steht in Diensten Ruprechts von Dürn, Vogt des Klosters Amorbach.
Es ist zu vermuten, daß Heinrich oder einer seiner Vorfahren durch die Verwaltung der Amorbacher Klostergüter im Raum von Hardheim in den Ministerialenstand aufsteigen konnte.
Reich, König und wir
Werfen wir zum Abschluß noch einen Blick auf die „große“ Geschichte, auf Reich und König, Papst und Kaiser in jenen Jahren. Und stellen wir die Frage, was diese so weit entfernte Zeit mit uns heutigen noch zu tun haben könnte.
Zunächst einmal befinden wir uns im Zeitalter der Salier – im Jahr 1024 wurde Konrad, genannt der Ältere, manchmal nannte er sich auch „der Waiblinger“, von den Großen des Reichs zum deutschen König gewählt. Er entstammte einer hochadligen Sippe – einer seiner Ururgroßväter war Kaiser Otto der Große; seine Frau Gisela von Schwaben zählte zu ihren Ahnen gar Karl den Großen. Konrad begründete die salische Königsdynastie, aus der bis über das Ende des 11. Jahrhunderts hinaus vier römisch-deutsche Könige und Kaiser hervorgingen.
Schon in den ersten Jahren seiner Regierung versuchte der erste Salier auf dem Thron, die Stadt Speyer zum Herrschaftszentrum der neuen Dynastie auszubauen. 1025 wurde der Grundstein für den Dom, die künftige Grablege der Salier gelegt.
Die Regierungszeit des Sohnes von Konrad, Heinrich III., sollte den Höhepunkt der Machtentfaltung der Dynastie der Salier bringen. Er war am 28. Oktober 1017 geboren worden und erhielt eine sorgfältige Erziehung, die ihn auf seine künftige Stellung als König bzw. römischer Kaiser vorbereiten sollte. Sein Vater versuchte zudem, noch zu seinen Lebzeiten die Stellung des Thronfolgers im Reich zu festigen. Deshalb setzte Konrad 1027, kurz vor seiner eigenen Kaiserkrönung in Rom, bei den deutschen Fürsten seinen Sohn als Nachfolger auf dem deutschen Königsthron durch; zuvor war der Zehnjährige schon zum Herzog von Bayern gemacht worden.
Ein Jahr vor dem Tod Konrads – 1038 – wurde Heinrich zudem Herzog von Schwaben und König von Burgund. 1043 heiratete Heinrich in zweiter Ehe Agnes von Poitou.
Ebenso wie sein Vater versuchte auch Heinrich, in Rom seine Krönung zum römischen Kaiser durchzusetzen. Dabei stieß er jedoch auf die Schwierigkeit, daß zu diesem Zeitpunkt sich drei Päpste das Amt des Statthalters Christi auf Erden streitig machten. Auf der Synode von Sutri an Weihnachten 1046 setzte Heinrich alle drei Päpste ab und ließ den Bischof Clemens von Bamberg als Clemens II. inthronisieren. Die erste Amtshandlung des neuen Papstes bestand in der Krönung von Heinrich zum römischen Kaiser – ein glänzender Höhepunkt der Machtentfaltung der salischen Kaiser.
Erst zu Zeiten seines Sohnes, der wiederum Heinrich hieß und in der Reihenfolge der deutschen Könige und Kaiser als der 4. geführt wird, kommt es zu großen Kampf zwischen Reich und Kirche, Kaiser und Papst. Wir alle kennen die dramatische Geschichte, wie der 4. Heinrich im Januar 1077 zu seinem Bußgang zur lombardischen Felsenburg Canossa aufbrach, wo sich sein Gegner, Papst Gregor VII., aufhielt. Er erreichte dort auch die Lösung vom über ihn ausgesprochenen Kirchenbann.
Ohne jetzt weiter auf die Ursachen des Konflikts zwischen Kaiser und Papst einzugehen: Hier zeigt sich auch die wichtigste Verbindung dieser fernen Zeit mit uns heutigen, eine Verbindung, die über die allgemeine Tradierung kultureller Besonderheiten hinausgeht:
Im Streit zwischen Papst und Kaiser gab es den berühmten Dritten, der sich freut, wenn zwei sich streiten. Und das waren in diesem Fall die Großen des Reiches, die Kronvasallen und Fürsten. Die Rolle des Kaisers wurde zu ihren Gunsten geschwächt, und über weitere Etappen wie die Goldene Bulle und die Reformation gelang es den Großen schließlich, souverän zu werden. Was das mit heute zu tun hat? Wenn die deutschen Ministerpräsidenten wie vor wenigen Tagen damit drohen, die europäische Gesetzgebung zu torpedieren, wenn Brüssel nicht die Rolle der Bundesländer aufrecht erhält, dann haben wir hier den vorläufigen Endpunkt dieser Entwicklung: Der deutsche Föderalismus ist das Ergebnis der mittelalterlichen Schwäche der Zentralgewalt, des Ringes um die Macht zwischen Kaiser und Papst.
Schluss
Damit sind wir wieder in der Gegenwart des Jahres 2000 angekommen, aufgetaucht aus unserer Zeitreise, wieder in Hardheim und dem zweifachen Jubiläum.